Gegen Zielsetzungen ist nichts
einzuwenden, sofern man sich dadurch nicht von interessanten Umwegen
abhalten lässt.
Mark Twain
Am 1. Juni sind wir um
6.00 Uhr wach. Schnell ist das Auto fahrfertig gemacht und los geht
es Richtung Grenze. Unterwegs versuchen wir Brot zu kaufen, der Laden
hat schon auf, aber nur abgepacktes Toastbrot. So früh gibt es noch
kein frisches. Das Toastbrot wollen wir nicht. Das soll sich als
Fehler erweisen.
Um 8.11 Uhr
erreichen wir die lettischen Grenzanlagen.
Hier
steht bereits eine lange Autoschlange. Vor uns ein MAN-Allrad LKW mit
Wohnkabine, deutsches Kennzeichen, hinter uns folgen zwei Motorräder,
einer der Fahrer spricht deutsch. Eine französische
Wohnmobilreisegruppe bildet den größten Teil der Schlange.
Dazwischen etliche PKWs mit lettischen und russischen Kennzeichen.
Zollerklärungen
werden verteilt, Pässe kontrolliert, ein Blick in die Wohnkabine
geworfen. Wir dürfen vorrücken.
9.30 Uhr.
Alles ist
erledigt, der Schlagbaum könnte hochgehen. Tut er aber nicht. Nichts
rührt sich. In weiser Voraussicht haben wir unsere Thermotassen
morgens mit Kaffee befüllt und belegte Brötchen gemacht. Wir
frühstücken also erstmal.
11.35 Uhr.
Inzwischen
hat sich so etwas wie eine Wartegemeinschaft gebildet. Man tauscht
sich aus, woher und wohin, spekuliert, warum es nicht weitergeht.
Die
Besatzung des MAN ist auch aus Berlin. Thomas baut solche Fahrzeuge,
entwirft Leichtbaukabinen auf individuellen Kundenwunsch. Den MAN
überführen er und seine Freundin nach Usbekistan für einen Kunden.
Die
Biker sind auf Weltreise, wollen von Wladiwostok nach Japan
übersetzen.
12.00 Uhr.
Die
Schranke öffnet sich, wir dürfen vorrücken.
Erst nach der
nächsten Schranke haben wir Lettland wirklich verlassen.
Das
war's allerdings vorläufig. Wieder bewegt sich nichts.
Die
Franzosen laufen aufgeregt hin und her, sie stehen seit 6.00 Uhr
morgens an der Grenze. Thomas'
Freundin reicht Kekse rum, die Biker legen sich im Schatten des MAN
auf den Wiesenstreifen.
Die
Zeit vergeht.
15.30 Uhr.
Es geht weiter.
Die
Zollscheine werden wieder eingesammelt, wir passieren wir die letzte
lettische Schranke.
Die
Autoschlange steht auf der russischen Seite, etwa hundert Meter
entfernt, wir stellen uns an. Nur sehr schleppend bewegt sich
überhaupt etwas.
16.10 Uhr.
Wir
rücken etwa zehn Meter vor.
Langsam knurrt uns der Magen. Wir gingen
davon aus, dass wir auf der russischen Seite gleich einkaufen können.
Hätten wir mal das Toastbrot gekauft. Wenigstens ein paar Cracker
haben wir noch.
Ein
junger Tiroler mit einem Kastenwagen hat sich zur Wartegemeinschaft
gesellt. Er will nach Nowosibirsk, Frau und Kind kommen dorthin
geflogen, die Familie hat vor, vier Monate unterwegs zu sein. Er
hofft, dass die 700 Windeln, die er für die kleine Tochter an Bord
hat kein Problem werden. Bald schon fachsimpeln die Männer über
Fahrzeuge und deren Ausbau.
17.07 Uhr.
Wir dürfen die
Zollerklärungen ausfüllen. Immerhin sind sie in Deutsch. Dazu
bekommen wir einen schmalen weißen mit einem Stempel drauf. Wieder
heißt es warten. Galgenhumor macht sich breit. Wenigstens einige der
französischen Wohnmobile sind zur letzten Kontrollstation
vorgerückt. Der schmale weiße Zettel wird durch einen grünen,
laminierten ersetzt.
19.00
Uhr.
Das blaue Häuschen der russischen Pass- und Zollkontrolle
ist erreicht.
Die Franzosen haben es fast geschafft, die MAN-Besatzung
darf vortreten um das nächste Formular in Empfang zu nehmen. Der
junge Uniformierte lässt sich Zeit. Es scheint schwer für ihn, die
lateinischen Buchstaben von den Formularen in die russische Vorlage
in seinem Computer zu bringen. Zwischendurch führt er längere
Gespräche mit seinem Kollegen, ignoriert standhaft die Leute vor dem
Schalter. Nach einer halben Stunde packt er seine Sachen, schließt
das Fensterchen und geht. Auf dem Parkplatz hinter dem Bürogebäude
wartet ein Bus. Die ganze Mannschaft steigt ein. Schichtwechsel.
Seit Stunden wird unter den Wartenden
darüber spekuliert, warum ein bürokratischer Vorgang, der zwar
umständlich ist, aber doch relativ schnell gehen könnte, so
deutlich sichtbar in die Länge gezogen wird. Es gibt lange Phasen in
denen, ebenfalls deutlich sichtbar, nichts passiert.
Sind die Grenzer
im Bummelstreik? Hat es politische Gründe?Arbeiten die grundsätzlich
so? Wir werden es wohl nie erfahren.
20.10 Uhr.
Die Büros
werden nach einer Weile neu besetzt. Diesmal sind es uniformierte
Frauen. Sie richten in aller Ruhe die Computer neu ein, aber dann
kommt Bewegung in die Sache. Wir bekommen ein weiteres Formular, uns
wird auf Englisch erklärt, wie es auszufüllen ist, ein junger Mann
und eine junge Frau kontrollieren das Auto gründlich von allen
Seiten, wir bekommen Stempel auf die Zollerklärung und dürfen zur
letzten Schranke vorfahren. Wir verabschieden uns von den anderen.
Gute Reise allerseits!
22.10 Uhr.
An der
letzten Schranke wird der schmale grüne Zettel wieder eingesammelt.
Es ist geschafft. Wir sind in Russland.
Auf der anderen Seite steuern wir die erste
Tankstelle an, tanken, kaufen Brot.
Auch in Russland gilt ein
Sonntagsfahrverbot. Die LKW stehen kilometerlang auf dem
Seitenstreifen der Straße nach Nevel, der nächsten Stadt hinter der
Grenze. Wir finden eine fast leere Autostojanka, einen der Parkplätze
für die Brummis. Der Nachtwächter kassiert 100 Rubel und zeigt uns
einen Platz auf der Wiese an der Seite. Nach einem kurzen Abendessen
fallen wir todmüde ins Bett.
Warten kann furchtbar anstrengend sein.
Die Autostojankas sind auch die nächsten zwei Nächte unser
Stellplatz. Es gibt kaum etwas anderes an den langen Strecken. Die
Übernachtung kostet immer 100 Rubel.
Die
endlos scheinenden Straßen führen durch ebenso endlos scheinende
Wälder und Wiesen, dazwischen Felder.
Hin und wieder gehen
Seitenwege ab, die aber entweder zu Dörfern führen oder so sandig
oder schlammig sind, dass wir garnicht erst versuchen sie zu befahren
um einen Platz für die Nacht zu finden.
Als wir parallel zur weißrussischen
Grenze sind, geraten wir auf eine Bezahlstraße. Wir können es kaum
glauben, es ist die bis jetzt schlechteste Straße auf unserer
Strecke.
Es rüttelt uns dermaßen durch, dass uns alle Knochen weh
tun.
Foto
Nach etwa 40
Kilometern gibt es einen Schlagbaum und ein Kassenhäuschen.
Unglaublich. Für diese Rüttelpiste werden tatsächlich 320.- Rubel
kassiert, etwa 5.- €. Als dann etwa hundert Meter weiter eine
glatte Teerstraße beginnt, müssen wir schon wieder lachen.
Irgendwer hat hier einen seltsamen Sinn für Humor.
Bei
Smolensk überqueren wir den Dnjepr, einen schönen, behäbigen
Fluss in einem grünen Bett.
Bald finden wir eine Autostojanka,
diesmal sogar mit Restaurant. Wir veranstalten ein Speisekartenraten
mit der ausschließlich in Russisch geschriebenen Karte und bekommen
Suppe, Krautsalat, gebratenes Fleisch, Eierkuchen mit
Hackfleischfüllung und Brot. Wir werden satt.
Weiter geht es am nächsten Morgen, wieder durch Wälder und Wiesen
und Felder. Von Anfang an begleiten uns die Birken.
Das Wetter wird
immer besser, es bieten sich weite Ausblicke und immer wieder grüßen
am Straßenrand die schönen Holzhäuser mit den verzierten
Fensterrahmen und Giebeln.
Die Straßen verlieren
sich in der Ferne, wir fahren weiter durch endlose Wälder, Wiesen und
Felder,
vorbei an kleinen Dörfern und Landstädtchen, Bauernhöfen
und Agrarfabriken.
Es ist der Weg nach
Wolgograd. Dort haben wir ein Hotelzimmer gebucht, weil man so am
einfachsten zu der vorgeschriebenen Registrierung kommt.
Immer wieder treffen wir
auf die Erinnerung an die Geschichte, die Deutschland und Russland
teilen. Denkmäler der Befreiung vom Hitlerfaschismus.
Kurz hinter Brjansk finden
wir eines das nicht durch seine Größe besonders beeindruckt,
sondern dadurch, dass acht von zehn Autos hupen, wenn sie
vorbeifahren. Hier wird der Geschichte einfach so, im Alltag, durch
diese Geste gedacht.
Wann
habt Ihr das letzte Mal Walderdbeeren gegessen? So viele, dass man
einen Löffel braucht? Bei uns ist das Jahrzehnte her. Hier gibt es
sie pfundweise zu kaufen, hinter Woronesh am Straßenrand.
Dazu Honig, und eingelegte Pilze. Die Walderdbeeren duften einmalig, nach Wald, Sonne und Kindheit.
Dazu Honig, und eingelegte Pilze. Die Walderdbeeren duften einmalig, nach Wald, Sonne und Kindheit.
Zum Glück haben wir daran
gedacht, unsere Duschsäcke ins Fahrerhaus zu legen, so haben wir am
Abend herrlich warmes Duschwasser.
Die Nacht verbringen wir hinter
einer kleinen Imbißbude, am nächsten Tag fahren wir erstmal bis
Ostrogorschsk.
Wir schlendern durch das
Städtchen, schauen beim Genossen Lenin vorbei,
kaufen ein und bekommen in
der MegaFon Filiale von einer netten jungen Frau eine russiche SIM
Karte. Wir können es kaum glauben: 30 (dreißig) GB für 330 Rubel,
das sind umgerechnet etwa 5 Euro. Inclusive ist eine Partnerkarte, so
dass wir nun beide online sind. Wieder drängt sich der Gedanke auf,
dass in Deutschland da irgendwas nicht richtig läuft.
Diesmal finden wir einen
Platz für Nacht an einem See.
Die Frösche quaken uns in
den Schlaf.
Bis bald, liebe Freunde,
Doris und Rüdiger
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