Mittwoch, 5. Juni 2019

Verzögerter Einlass


Gegen Zielsetzungen ist nichts einzuwenden, sofern man sich dadurch nicht von interessanten Umwegen abhalten lässt.

Mark Twain


Am 1. Juni sind wir um 6.00 Uhr wach. Schnell ist das Auto fahrfertig gemacht und los geht es Richtung Grenze. Unterwegs versuchen wir Brot zu kaufen, der Laden hat schon auf, aber nur abgepacktes Toastbrot. So früh gibt es noch kein frisches. Das Toastbrot wollen wir nicht. Das soll sich als Fehler erweisen.
Um 8.11 Uhr erreichen wir die lettischen Grenzanlagen.


Hier steht bereits eine lange Autoschlange. Vor uns ein MAN-Allrad LKW mit Wohnkabine, deutsches Kennzeichen, hinter uns folgen zwei Motorräder, einer der Fahrer spricht deutsch. Eine französische Wohnmobilreisegruppe bildet den größten Teil der Schlange. Dazwischen etliche PKWs mit lettischen und russischen Kennzeichen.
Zollerklärungen werden verteilt, Pässe kontrolliert, ein Blick in die Wohnkabine geworfen. Wir dürfen vorrücken. 
9.30 Uhr. 
Alles ist erledigt, der Schlagbaum könnte hochgehen. Tut er aber nicht. Nichts rührt sich. In weiser Voraussicht haben wir unsere Thermotassen morgens mit Kaffee befüllt und belegte Brötchen gemacht. Wir frühstücken also erstmal. 
11.35 Uhr.
Inzwischen hat sich so etwas wie eine Wartegemeinschaft gebildet. Man tauscht sich aus, woher und wohin, spekuliert, warum es nicht weitergeht.
Die Besatzung des MAN ist auch aus Berlin. Thomas baut solche Fahrzeuge, entwirft Leichtbaukabinen auf individuellen Kundenwunsch. Den MAN überführen er und seine Freundin nach Usbekistan für einen Kunden.
Die Biker sind auf Weltreise, wollen von Wladiwostok nach Japan übersetzen. 
12.00 Uhr.
Die Schranke öffnet sich, wir dürfen vorrücken. 


Erst nach der nächsten Schranke haben wir Lettland wirklich verlassen.
Das war's allerdings vorläufig. Wieder bewegt sich nichts.
Die Franzosen laufen aufgeregt hin und her, sie stehen seit 6.00 Uhr morgens an der Grenze. Thomas' Freundin reicht Kekse rum, die Biker legen sich im Schatten des MAN auf den Wiesenstreifen.
Die Zeit vergeht. 
15.30 Uhr. Es geht weiter.
Die Zollscheine werden wieder eingesammelt, wir passieren wir die letzte lettische Schranke.
Die Autoschlange steht auf der russischen Seite, etwa hundert Meter entfernt, wir stellen uns an. Nur sehr schleppend bewegt sich überhaupt etwas. 
16.10 Uhr. 
Wir rücken etwa zehn Meter vor. 


Langsam knurrt uns der Magen. Wir gingen davon aus, dass wir auf der russischen Seite gleich einkaufen können. Hätten wir mal das Toastbrot gekauft. Wenigstens ein paar Cracker haben wir noch.
Ein junger Tiroler mit einem Kastenwagen hat sich zur Wartegemeinschaft gesellt. Er will nach Nowosibirsk, Frau und Kind kommen dorthin geflogen, die Familie hat vor, vier Monate unterwegs zu sein. Er hofft, dass die 700 Windeln, die er für die kleine Tochter an Bord hat kein Problem werden. Bald schon fachsimpeln die Männer über Fahrzeuge und deren Ausbau. 
17.07 Uhr. 
Wir dürfen die Zollerklärungen ausfüllen. Immerhin sind sie in Deutsch. Dazu bekommen wir einen schmalen weißen mit einem Stempel drauf. Wieder heißt es warten. Galgenhumor macht sich breit. Wenigstens einige der französischen Wohnmobile sind zur letzten Kontrollstation vorgerückt. Der schmale weiße Zettel wird durch einen grünen, laminierten ersetzt.
19.00 Uhr. 
Das blaue Häuschen der russischen Pass- und Zollkontrolle ist erreicht. 


Die Franzosen haben es fast geschafft, die MAN-Besatzung darf vortreten um das nächste Formular in Empfang zu nehmen. Der junge Uniformierte lässt sich Zeit. Es scheint schwer für ihn, die lateinischen Buchstaben von den Formularen in die russische Vorlage in seinem Computer zu bringen. Zwischendurch führt er längere Gespräche mit seinem Kollegen, ignoriert standhaft die Leute vor dem Schalter. Nach einer halben Stunde packt er seine Sachen, schließt das Fensterchen und geht. Auf dem Parkplatz hinter dem Bürogebäude wartet ein Bus. Die ganze Mannschaft steigt ein. Schichtwechsel. 
 Seit Stunden wird unter den Wartenden darüber spekuliert, warum ein bürokratischer Vorgang, der zwar umständlich ist, aber doch relativ schnell gehen könnte, so deutlich sichtbar in die Länge gezogen wird. Es gibt lange Phasen in denen, ebenfalls deutlich sichtbar, nichts passiert. 


Sind die Grenzer im Bummelstreik? Hat es politische Gründe?Arbeiten die grundsätzlich so? Wir werden es wohl nie erfahren. 
20.10 Uhr. 
Die Büros werden nach einer Weile neu besetzt. Diesmal sind es uniformierte Frauen. Sie richten in aller Ruhe die Computer neu ein, aber dann kommt Bewegung in die Sache. Wir bekommen ein weiteres Formular, uns wird auf Englisch erklärt, wie es auszufüllen ist, ein junger Mann und eine junge Frau kontrollieren das Auto gründlich von allen Seiten, wir bekommen Stempel auf die Zollerklärung und dürfen zur letzten Schranke vorfahren. Wir verabschieden uns von den anderen. Gute Reise allerseits! 
22.10 Uhr. 
An der letzten Schranke wird der schmale grüne Zettel wieder eingesammelt. 
Es ist geschafft. Wir sind in Russland.


Auf der anderen Seite steuern wir die erste Tankstelle an, tanken, kaufen Brot. 


Auch in Russland gilt ein Sonntagsfahrverbot. Die LKW stehen kilometerlang auf dem Seitenstreifen der Straße nach Nevel, der nächsten Stadt hinter der Grenze. Wir finden eine fast leere Autostojanka, einen der Parkplätze für die Brummis. Der Nachtwächter kassiert 100 Rubel und zeigt uns einen Platz auf der Wiese an der Seite. Nach einem kurzen Abendessen fallen wir todmüde ins Bett. 
Warten kann furchtbar anstrengend sein. 
Die Autostojankas sind auch die nächsten zwei Nächte unser Stellplatz. Es gibt kaum etwas anderes an den langen Strecken. Die Übernachtung kostet immer 100 Rubel. 

Die endlos scheinenden Straßen führen durch ebenso endlos scheinende Wälder und Wiesen, dazwischen Felder. 
Hin und wieder gehen Seitenwege ab, die aber entweder zu Dörfern führen oder so sandig oder schlammig sind, dass wir garnicht erst versuchen sie zu befahren um einen Platz für die Nacht zu finden. Als wir parallel zur weißrussischen Grenze sind, geraten wir auf eine Bezahlstraße. Wir können es kaum glauben, es ist die bis jetzt schlechteste Straße auf unserer Strecke. 
 


Es rüttelt uns dermaßen durch, dass uns alle Knochen weh tun. Foto Nach etwa 40 Kilometern gibt es einen Schlagbaum und ein Kassenhäuschen. Unglaublich. Für diese Rüttelpiste werden tatsächlich 320.- Rubel kassiert, etwa 5.- €. Als dann etwa hundert Meter weiter eine glatte Teerstraße beginnt, müssen wir schon wieder lachen. Irgendwer hat hier einen seltsamen Sinn für Humor.
 
Bei Smolensk überqueren wir den Dnjepr, einen schönen, behäbigen Fluss in einem grünen Bett. 
Bald finden wir eine Autostojanka, diesmal sogar mit Restaurant. Wir veranstalten ein Speisekartenraten mit der ausschließlich in Russisch geschriebenen Karte und bekommen Suppe, Krautsalat, gebratenes Fleisch, Eierkuchen mit Hackfleischfüllung und Brot. Wir werden satt. Weiter geht es am nächsten Morgen, wieder durch Wälder und Wiesen und Felder. Von Anfang an begleiten uns die Birken.


Das Wetter wird immer besser, es bieten sich weite Ausblicke und immer wieder grüßen am Straßenrand die schönen Holzhäuser mit den verzierten Fensterrahmen und Giebeln.




Die Straßen verlieren sich in der Ferne, wir fahren weiter durch endlose Wälder, Wiesen und Felder, 



vorbei an kleinen Dörfern und Landstädtchen, Bauernhöfen und Agrarfabriken.
Es ist der Weg nach Wolgograd. Dort haben wir ein Hotelzimmer gebucht, weil man so am einfachsten zu der vorgeschriebenen Registrierung kommt.
Immer wieder treffen wir auf die Erinnerung an die Geschichte, die Deutschland und Russland teilen. Denkmäler der Befreiung vom Hitlerfaschismus.


Kurz hinter Brjansk finden wir eines das nicht durch seine Größe besonders beeindruckt, sondern dadurch, dass acht von zehn Autos hupen, wenn sie vorbeifahren. Hier wird der Geschichte einfach so, im Alltag, durch diese Geste gedacht.




Wann habt Ihr das letzte Mal Walderdbeeren gegessen? So viele, dass man einen Löffel braucht? Bei uns ist das Jahrzehnte her. Hier gibt es sie pfundweise zu kaufen, hinter Woronesh am Straßenrand. 


Dazu Honig, und eingelegte Pilze. Die Walderdbeeren duften einmalig, nach Wald, Sonne und Kindheit.




Zum Glück haben wir daran gedacht, unsere Duschsäcke ins Fahrerhaus zu legen, so haben wir am Abend herrlich warmes Duschwasser. 



Die Nacht verbringen wir hinter einer kleinen Imbißbude, am nächsten Tag fahren wir erstmal bis Ostrogorschsk.



Wir schlendern durch das Städtchen, schauen beim Genossen Lenin vorbei,


kaufen ein und bekommen in der MegaFon Filiale von einer netten jungen Frau eine russiche SIM Karte. Wir können es kaum glauben: 30 (dreißig) GB für 330 Rubel, das sind umgerechnet etwa 5 Euro. Inclusive ist eine Partnerkarte, so dass wir nun beide online sind. Wieder drängt sich der Gedanke auf, dass in Deutschland da irgendwas nicht richtig läuft.

Diesmal finden wir einen Platz für Nacht an einem See.




Die Frösche quaken uns in den Schlaf.

Bis bald, liebe Freunde,
Doris und Rüdiger

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